Idee „Faire Arbeitsmigration“

1. Hintergrund

Artikel 23 – Allgemeine Erklärung der Menschenrechte:

Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.

 

Die Gründung der Europäischen Union (EU) basiert auf der Idee, dauerhaft Frieden in Europa zu schaffen. Der Grundgedanke, dass wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Angleichung von Lebensbedingungen zu Solidarität führen, hat bisher zu einer langen Friedensperiode geführt. Die vier Grundfreiheiten der EU – Freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit und Freier Kapital- und Zahlungsverkehr – ermöglichen insbesondere den bereits wirtschaftlich reichen und erfolgreichen Staaten und Unternehmen neue Märkte zu erschließen. Dabei wurde ein Konzept des Freien Marktes mit wenigen Kontrollen bei der Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes umgesetzt.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der EU haben – unter Beachtung der Übergangsregeln für osteuropäische Staaten – die Möglichkeit, ohne Beschränkung Zugang zu den Arbeits-märkten anderer EU-Staaten zu bekommen. Dabei prallen große soziale Unterschiede unkontrolliert aufeinander. EU-Bürger in Polen verdienen im Durchschnitt monatlich etwa 750.- Euro1, in Rumänien ca. 480.- Euro2. In Deutschland dagegen verdienen die Menschen durchschnittlich 2800 Euro3. Große Unterschiede finden sich auch bei den Sozialstandards und der Durchsetzbarkeit von Arbeitnehmerrechten. In vielen Ländern der EU ist die Armutsquote immer noch hoch oder in Folge der andauernden Wirtschafts- und Finanzkrise wieder ansteigend. Menschen aus ärmeren Gebieten werden durch diese Ausgangslage zunehmend gezwungen, zumindest vorübergehend, auszuwandern, da in ihrer Heimat die Chance auf eine existenzsichernde Beschäftigung eher gering ist.

 
2. Perspektiven
2.1 Unternehmen

Unternehmen nutzen das Lohngefälle innerhalb der EU bewusst, um Produktion und Dienstleistungen in Länder auszulagern, die für sie geringere (Lohn-)Kosten verursachen. Dabei kommt ihnen zu Gute, dass die EU höchsten Wert auf die Rechtsanpassung (Acquis communitaire) in den neuen Mitgliedsstaaten legt. Dies gibt den Unternehmen Rechtssicherheit bei Investitionen und Steuerrecht. Die Rechte der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen dagegen sind nicht einheitlich reguliert.

So wird die Hoffnung der Menschen aus den strukturschwächeren Regionen auf ein besseres Leben und eine verlässliche Arbeitsbeziehung in den wirtschaftsstärkeren Staaten der EU enttäuscht. Insbesondere Branchen wie Gastronomie, Bau- und Landwirtschaft oder Pflege,4 die auf Grund der notwendigen Nähe zum Absatzmarkt bzw. ihrer Kundenorientierung nicht verlagert werden können, sind zunehmend geprägt durch prekäre Beschäftigung. Viele der dort Beschäftigten haben einen Migrationshintergrund, eine steigende Zahl von ihnen sind Arbeitsmigrant/-innen.

 
2.2 Konsum

Konsumentinnen und Konsumenten profitieren von den durch die Unternehmen weitergegeben günstigeren Preisen, beispielsweise beim Essengehen, beim Wareneinkauf oder bei Pflege- oder Reinigungsleistungen. Die Produktions- bzw. Arbeitsbedingungen sind bei den Konsument/-innen nur bedingt im Blick. Die teilweise miserable Lebenssituation der Arbeitsmigrant/-innen, die von prekären Arbeitsverhältnissen bis hin zu Arbeitsausbeutung und Menschenhandel5 reichen, wird dabei im besten Fall verdrängt oder sogar billigend in Kauf genommen.

Zudem täuscht der Eindruck, dass Unternehmen und Konsumentinnen und Konsumenten in Deutschland durch die vorübergehende Zuwanderung von billiger und teilweiser wehrloser Arbeitskraft profitieren. Denn durch prekäre Arbeitsverhältnisse entgehen dem Staat Sozialversicherungsbeiträge und Steuern, der Versicherungsschutz im Krankheitsfall und die Altersversorgung sind unzureichend oder gar nicht mehr gewährleistet. Als Folge zeichnet sich die Verarmung von Bevölkerungsgruppen und die Gefährdung des sozialen Friedens in Europa bereits zum heutigen Zeitpunkt ab.

 
2.3 Beschäftigte

Verschiedene Entwicklungen wie der Abbau von Mitbestimmungsmöglichkeiten, Verlagerung von ganzen Industriezweigen ins Ausland sowie Druck auf Grund von Internationalisierung und das Entstehen eines Niedriglohnsektors haben den deutschen Arbeitsmarkt in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Experten sprechen von einer deutlichen Zunahme von prekären Beschäftigungsformen wie beispielsweise Leiharbeit bzw. Werksverträge, Befristungen, Teilzeit-, Mini- und Midi-Jobs sowie (Schein- bzw. Solo-) Selbstständigkeit. Die Situation der inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird zusätzlich verschärft durch die Bereitschaft von Arbeitsmigrantinnen und -migranten, noch schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Angesichts des Konkurrenzdrucks werden Arbeits- bzw. Arbeitnehmerrechte nicht eingeklagt, um den Arbeitsplatz nicht zu gefährden. Dadurch wird gesellschaftliche Teilhabe eingeschränkt.

Baden-Württemberg gehört zu den europäischen Regionen mit hoher Lebensqualität, einer stabilen Beschäftigungsquote und guten Ausbildungschancen für junge Menschen. Konzerne der Automobil- und Zulieferindustrie sowie zahlreiche innovative mittelständische Betriebe üben eine starke Sogwirkung auf Arbeitssuchende aus. Die vielen Bauprojekte in Stuttgart und Baden-Württemberg ziehen ebenso Menschen auf der Suche nach Arbeit an. Durch die hohen Lebenshaltungskosten können auch inländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter einem bestimmten Lohnniveau nicht existenzsichernd arbeiten. Zunehmend sind Arbeitnehmer/-innen (z.B. geringfügig und prekär Beschäftigte…) in Deutschland gezwungen, ihr Haushaltseinkommen durch Arbeitslosengeld II aufzustocken und sich dauerhaft auf schlecht bezahlte Jobs oder ein weiteres Arbeitsverhältnis einzulassen.

 
2.4 Migranten

Arbeitgeber versuchen, die Lücke zwischen hohen Lebenshaltungskosten und der Nachfrage nach billigen Mitarbeitern mit Arbeitskräften aus wirtschaftlich schwächeren Ländern zu füllen. Diese arbeiten teilweise für Gehälter, die am Arbeitsort nicht zum Leben ausreichen. Außerdem sind sie aus wirtschaftlicher Not gezwungen, sehr niedrige Standards hinsichtlich Arbeit und Arbeitsumgebung zu akzeptieren. Mitunter herrschen menschenunwürdige Bedingungen hinsichtlich Entlohnung, Hygiene und Unterbringung6. Auf Dauer führen die daraus resultierenden physischen, psychischen und ökonomischen Belastungen zu einer steigenden Zahl von ausländischen ratsuchenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer7. In den kommunalen und kirchlichen Beratungsstellen in Stuttgart häufen sich seit Jahren die Klagen über Scheinverträge, Lohndumping und Arbeitsausbeutung.

 
3. Prekäre Arbeit

Auch wenn Baden-Württemberg im Bundesvergleich eine sehr niedrige Arbeitslosenquote hat und dadurch gerade für Arbeitssuchende attraktiv ist, werden auf dem Arbeitsmarkt zahlreiche prekäre Arbeitsverhältnisse angeboten, die häufig auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen sind. Hiervon sind inländische und ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gleichermaßen betroffen, wobei der Zugang zu Beratungsangeboten für Arbeitsmigrantinnen und -migranten durch gesetzliche Vorgaben, kulturelle und sprachliche Barrieren erheblich erschwert wird. Die Hauptaufgabe in der Beratungsarbeit besteht darin, vorenthaltenen Lohn nach Möglichkeit einzuklagen. Denn die gesetzlichen Möglichkeiten für die Unternehmen, Leistungen auszugliedern und von Tochterunternehmen abwickeln zu lassen, sind sehr vielfältig. So ist es teilweise sehr schwierig, die Verantwortlichen zu identifizieren und zur Lohnauszahlung zu bewegen.

 
4. Forderung

In einem Staat, der die Menschenwürde als ersten Artikel in der Verfassung verankert hat, ist es inakzeptabel, dass eine Gruppe von Menschen auf Grund der schwierigen wirtschaftlichen Lage in ihren Herkunftsländern zur Arbeitsmigration innerhalb der EU animiert wird, sich dann aber in teilweise ausbeuterischen Lebenssituationen wieder findet und sich selber überlassen bleibt8. Da nicht davon auszugehen ist, dass die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten in absehbarer Zeit ihren Binnenmarkt arbeitnehmerfreundlicher gestalten werden9, ist es wesentlich die Aufgabe von Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Verbänden sowie kirchlichen Einrichtungen vor Ort, auch in der Arbeitswelt Gleichberechtigung und Menschenwürde einzuklagen und ein Bewusstsein für diese in unserem Alltag stattfindende Ungerechtigkeit zu schaffen. Nur so kann ein notwendiges Umlenken in Bezug auf eine faire Arbeitsmigration in Baden-Württemberg bewirkt werden.

Deshalb haben die auf dieser Webseite genannten Organisationen, Verbände und Einrichtungen beschlossen, das Bündnis Faire Arbeitsmigration Baden-Württemberg zu gründen.

 
5. Ziele

Ziele des Bündnisses Faire Arbeitsmigration Baden-Württemberg

  • Menschenwürdige Arbeitsbedingungen, faire Löhne, faire Arbeitsmigration und gesellschaftliche Teilhabe sind selbstverständlich und im Arbeits- und Sozialrecht verankert.

  • Arbeitsmigrantinnen und –migranten erfahren adäquate Begleitung und Beratung, Rechtsschutz und Solidarität.

  • Ein professionelles Beratungsangebot ist in den Regionen aufgebaut und im Gemeinwesen implementiert.

  • Netzwerkarbeit findet institutionalisiert statt.

  • Benachteiligung und Ausbeutung von Migrantinnen und Migranten werden in den Bereichen Gesellschaft, Kirche und Politik nicht toleriert.

 
6. Arbeitsweise
Akteure im Bündnis sind: unabhängige Fachberatungsstellen in freier und öffentlicher Trägerschaft, die Arbeitsmigrantinnen und –migranten beraten, und Akteure aus Gesellschaft, Politik und Kirche.

  • Strategische Ebene
    • Die Bündnispartner bringen das Thema „Faire Arbeitsmigration“ innerhalb ihrer Öffentlichkeitsarbeit in die gesellschaftliche Diskussion ein. Die Fachberatungsstellen bieten dazu Informationen aus erster Hand und stehen als Referent/-innen zur Verfügung.
    • Die Bündnispartner unterstützen die operative Ebene, indem sie Betroffene an die Fachberatungsstellen vermitteln sowie durch praktische Zusammenarbeit.
    • Die Bündnispartner stehen in Erfahrungsaustausch per E-Mail und durch jährliche Treffen (weitere Treffen nach Bedarf).
    • Gemeinsam werden Kampagnen, Diskussionen oder Aktionen geplant, um politisch Lobby-Arbeit gegen Menschenhandel und Arbeitsausbeutung zu leisten.
    • Durch Kontakt zu Politiker/-innen und der Landesregierung wird das Thema vorangebracht. Ziel sind regelmäßige Austauschformen zwischen Politik und Vertretern des Bündnisses wie ein Runder Tisch o.ä.
  • Operative Ebene
    • Auf der operativen Ebene sind die Fachberatungsstellen aktiv, die Betroffene von Menschenhandel und von Arbeitsausbeutung informieren, beraten und bei der Durchsetzung ihrer Rechte unterstützen.
    • Sie arbeiten eng zusammen und leisten gegenseitig kollegiale Beratung.
    • Alle Fachberatungsstellen leisten auch Öffentlichkeits- und Bewusstseinsarbeit.
    • Ihre Arbeit wird durch die strategischen Partner des Bündnisses unterstützt und mitgetragen.
 
Fußnoten

4 Vgl. Studie „Grenzenlos Faire Mobilität?“, hrsg. von: Projekt Faire Mobilität des Bundesvorstandes des DGB, September 2012, Seite 20. Die Studie kann im Internet als PDF-Dokument eingesehen und herunter geladen werden unter: http://www.faire-mobilitaet.de/suche/++co++317ebf34-efb6-11e1-93f0-00188b4dc422/@@index.html?search_text=studie&x=0&y=0

5 vgl. § 233 StGB

6 Vgl.: Studie: „Grenzenlos faire Mobilität?“, Berlin, September 2012. In der Zusammenfassung heißt es: „Im Auftrag des Projekts Faire Mobilität des DGB-Bundesvorstandes hat Michaela Dälken die Arbeitssituation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten auf dem deutschen Arbeitsmarkt anhand der Daten- und Rechtslage untersucht .Ihr Fazit: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit funktioniert in vielen Bereichen gut. (…) In einigen Branchen dagegen, wie dem Baugewerbe, der Gebäudereinigung, der Schlachtindustrie, in den Pflegeberufen und im Hotel- und Gaststättengewerbe, gibt es ein große Anzahl von Beschäftigten aus den mittel- und osteuropäischen Ländern, die aufgrund mangelnder Kenntnisse ihrer Rechte und einer geringen Verhandlungsmacht oft systematisch ausgenutzt werden. Dies ist besonders der Fall bei entsendeten Beschäftigten, (Schein-) Selbständigen und grenzüberschreitenden Leiharbeiter/innen.“

7 Exemplarische Fälle werden anschaulich vorgestellt in der empfehlenswerten Handreichung: „Arbeitsausbeutung und Menschenhandel- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernzu ihren Rechten verhelfen“, hrsg. vom ‚Deutschen Institut für Menschenrechte’ und der ‚Stiftung Erinnerung – Verantwortung – Zukunft’; Berlin, Juni 2012 (http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/handreichung_arbeitsausbeutung_und_menschenhandel.pdf)

8 Solche Arbeits- und Lebensverhältnisse stehen im deutlichen Widerspruch zum Vertrag über die Arbeitsweise der EU. Dort heißt es in Artikel 151 AEUV:

„Die Union und die Mitgliedstaaten verfolgen eingedenk der sozialen Grundrechte, wie sie in der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 festgelegt sind, folgende Ziele: die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen, einen angemessenen sozialen Schutz, den sozialen Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen.“ (Quelle: www.aeuv.de)

9 So hat die Bundesrepublik Deutschland – neben vielen weiteren EU-Staaten – die „RICHTLINIE 2011/36/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels [auch zum Zweck der Arbeitsausbeutung; die Verf.] und zum Schutz seiner Opfer (…)“ bis heute nicht umgesetzt.